Anforderungen an den Einigungsvertrag

Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Sprecherrates der Gewerkschaften der DDR

I

Anforderungen an das Verfahren zur Beratung und Verabschiedung des Einigungsvertrages

Der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Sprecherrat der Gewerkschaften und Industriegewerkschaften der DDR unterstützen das Vorhaben der Regierungen beider deutscher Staaten, dem Bundestag und der Volkskammer möglichst schnell einen vertraglich fixierten Rahmen für die Herstellung der deutschen Einheit zur Beschlussfassung vorzulegen. Ziel muss es sein, Grundlagen für ein gleichberechtigtes Zusammenleben und für gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen in allen Teilen Deutschlands zu schaffen.

Sie erwarten, dass sowohl im Prozess der Erarbeitung des Vertragswerkes selber wie auch im Prozess der parlamentarischen Beratungen die Anforderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Sprecherrates an den Einigungsvertrag berücksichtigt werden.

Mir dem ersten Staatsvertrag wurden bereits weitgehende Regelungen zur Angleichung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialgesetzgebung beider deutschen Staaten vorgenommen. Dennoch haben die tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Umbrüche in der DDR eine Reihe von DDR spezifischen Regelungen (z. B. Arbeitsförderungsgesetz) verlangt, die den aktuellen Gegebenheiten gerecht werden.

Nach Auffassung des DGB und des Sprecherrates dürfen solche spezifischen Regelungen nicht durch den vorgesehenen Einigungsvertrag wieder abgeschafft werden, ohne dass ausreichende Übergangsregelungen vorgesehen werden.

Daher fordern der DGB und der Sprecherrat, fallweise zu überprüfen

- welche Regelungen der Bundesrepublik sofort übernommen werden müssen.

- welche der in der DDR bestehenden Regelungen für eine befristete Übergangszelt fortbestehen

- und welche Regelungen der DDR sinnvoller und sozialverträglicher für die Menschen in einem geeinten Deutschland sind.

Zugleids sollte angesichts des vorhandenen Zeitdrucks sorgfältig erwogen werden, welche Bereiche im Einigungsvertrag unbedingt geregelt werdet müssen bzw. welche Bereiche hinsichtlich ihrer Rechtsangleichung einem zukünftigen und gesamtdeutschen Gesetzgeber überlassen bleiben.

II

Schaffung einer gesamtdeutschen Verfassung

Der DGB und der Sprecherrat fordern die Regierungen beider deutscher Staaten eindringlich auf, mit dem Einigungsvertrag den Weg nur Schaffung einen neuen deutschen Verfassung auf der Basis des Grundgesetzes der Bundesrepublik zu eröffnen. Der DGB und der Sprecherrat fordern daher, im Vertrag die Bildung eines Verfassungsrates zu vereinbaren, der in einer angemessenen Zeit den Entwurf einen neuen Verfassung erarbeitet. Dieser muss in einem Volksentscheid zur Abstimmung gestellt werden. Nach Überzeugung des DGB und des Sprecherrates muss dabei von der freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik ausgegangen werden. Zu prüfen wäre, ob plebiszitäre Elemente in die Verfassungsordnung integriert werden. Notwendig ist eine stärker als bisher soziale wie ökologische Ausprägung:

1. Erhaltung und Konkretisierung des Sozialstaatsgebots

Der DGB und der Sprecherrat fordern, dass in der Verfassung des geeinten Deutschlands das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes übernommen und durch soziale Grundrechte und Staatszielbestimmung konkretisiert wird.

Recht auf Arbeit

Das Recht auf Arbeit muss Staatsziel werden, das den Staat zu einer konsequenten Vollbeschäftigungspolitik verpflichtet.

Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie

Die Autonomie der Gewerkschaften sowie die Tarifautonomie - auch für Beamtinnen und Beamte – müssen verfassungsrechtlich garantiert werden.

Jede Form des staatlichen Eingriffs, insbesondere die Aussetzung von Arbeitskampfmaßnahmen und jede Form der Zwangsschlichtung sind auszuschließen.

Das Streikrecht muss gewährleistet und darf nicht eingeschränkt werden. Die Aussperrung muss verboten werden.

Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit

Alle Menschen müssen grundsätzlich das Recht auf Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen haben. Ein seine Verantwortung wahrnehmender Sozialstaat muss für alle Regionen gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen und ein ausreichendes und preiswertes Angebot an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen schaffen. Mit der Ordnung seiner Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik muss ein Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit erreicht werden.

Recht auf Wohnen

Das Recht auf Wohnen muss den Staat verpflichten, für ein ausreichendes und preiswertes Wohnraumangebot sowie für einen umfassenden Mieterschutz zu sorgen.

Recht auf Bildung und Berufsbildung

Das Recht auf Bildung und Berufsbildung muss den Staat verpflichten, ein ausreichendes Angebot der allgemeinen und beruflichen Aus- und Weiterbildung au schaffen, mit dem die Menschen dazu befähigt werden, ein eigenständiges Leben zu führen und in Politik und Wirtschaft mitentscheiden zu können. Dies schließt die Förderung der politischen Bildung ein.

2. Umweltschutz als Staatsziel

Der Schutz der Umwelt muss den Rang eines zwingenden Auftrags der Verfassung - ohne Gesetzesvorbehalt – erhalten.

3. Gleichberechtigung von Frauen und Männern

Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss staatliche Aufgabe mit Verfassungsrang sein. Männer und Frauen müssen auch im Arbeitsleben gleichberechtigt sein. Jede Diskriminierung von Frauen ist zu verbieten.

III

Einzelne Inhaltliche Schwerpunkte des Einigungsvertrages

1. Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen

Die derzeit in der Bundesrepublik bestehenden regionalen Disparitäten werden durch einen neuen "West-/Ost-Gegensatz" verschärft. Der Einigungsvertrag muss deshalb Wege vorsehen, mit denen die Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen in allen Teilen Deutschlands möglichst schnell angeglichen werden können. Die, erfordert insbesondere struktur- und beschäftigungspolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur der DDR und zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen.

Eine Regelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern im Einigungsvertrag darf nicht die Finanzkraft von Gebietskörperschaften in strukturschwachen Gebieten sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR negativ beeinflussen.

Eine umfassende Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern kann allerdings erst im Anschluss an die Vereinigung der beiden deutschen Staaten erfolgen. Die Fristsetzung bis Ende I994 entspricht dein Zeitbedarf für die Anpassung der komplizierten und mit weitreichenden finanziellen Konsequenzen verbundenen Regelmechanismen unseres föderalistischen Steuer- und Finanzsystems an neue Verhältnisse. Der DGB und der Sprecherrat unterstützen daher die in Artikel 31, § 2 Abs. 2 des ersten Staatsvertrages festgeschriebene Vereinbarung, nach der die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Länder erst mit Wirkung vom 1. Januar 1995 neu zu regeln sind.

Dabei gehen der DGB und der Sprecherrat davon aus, dass die Finanzierungsregelungen des Fonds "Deutsche Einheit" bis dahin gelten.

Die bewährten Koordinationsinstrumente zwischen Bund und Ländern, insbesondere für die Gemeinschaftsaufgaben, sollten zwischen Bund und alten wie neuen Ländern angewandt werden.

2. Treuhandanstalt und Privatisierung

Der DGB und der Sprecherrat bejahen mit Nachdruck die im Treuhandgesetz festgelegte Priorität einer Verwendung der Einnahmen der Treuhandanstalt für die Strukturanpassung der Unternehmen; sie sollte so erfolgen, dass zugleich eine regional und sektoral ausgewogene und leistungsfähige DDR-Wirtschaft entsteht. Sie lehnen alle Bestrebungen ab, im Rahmen des Einigungsvertrages statt dieser Zielsetzung eine vorrangige Verwendung von Privatisierungserlösen für die Haushaltskonsolidierung festzuschreiben.

Das Ziel einer möglichst breiten Streuung des Produktivvermögens muss bei der Privatisierung volkseigener Unternehmen berücksichtigt werden.

Einen wesentlichen Beitrag zur Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen in ganz Deutschland haben die Kommunen und Länder zu leisten. Im Gesetz über das Vermögen der Gemeinden, Städte und Landkreise (Kommunalvermögensgesetz) sind diesen Gebietskörperschaften umfangreiche die Teile des Volksvermögens übertragen worden. Dies ist die Grundlage dafür, dass die Kommunen ihre Aufgaben - z. B. die Neugestaltung des öffentlichen Nahverkehrs, der Energieversorgung bewältigen können.

Der DGB und der Sprecherrat fordern die Regierungen beider Staaten auf, mit dem Einigungsvertrag keine umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen des volkseigenen Vermögens, das den Kommunen übertragen ist, zu vereinbaren bzw. zu ermöglichen.

3. Rechtsangleichung im öffentlichen Dienst

Die Verwirklichung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates erfordert auch in der DDR einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst.

Die Bürger und Bürgerinnen der heutigen DDR haben Anspruch auf die gleichen öffentlichen Dienstleistungen wie die Menschen in der Bundesrepublik. Deshalb sind alle öffentlichen Dienstleistungen, die in der BRD angeboten werden, auch auf dem Gebiet der heutigen DDR vorzuhalten. Die Umstrukturierung des öffentlichen Dienstes in der DDR darf keinesfalls zu einer Verringerung der Qualität des öffentlichen Dienstleistungsangebots führen.

Der DGB und der Sprecherrat erwarten, dass mit dem Einigungsvertrag eine grundlegende Reform des öffentlichen Dienstrechts ermöglicht wird, die den Forderungen des DGB und des Sprecherrates auf Schaffung eines an einheitlichen Grundsätzen orientierten Personalrechts entspricht. Sie ist. auch im Hinblick auf die europäische Entwicklung (Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 48 EWG-Vertrag) ohnehin geboten.

Bei den Übergangsvorschriften des Einigungsvertrages für den öffentlichen Dienst müssen folgende Forderungen berücksichtigt werden:

- Die beabsichtigte Einführung des Berufsbeamtentums auf dem Gebiet der heutigen DDR ist kein Mittel, den Wunsch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach gesicherten Arbeitsplätzen zu erfüllen.

Zur Sicherung der Arbeitsplätze fordert der DGB Umschulungsmaßnahmen und eine qualifizierte Fort- und Weiterbildung. Auch bei der Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltung muss der Grundsatz "qualifizieren statt entlassen" gelten. Deshalb sind auch hier die nach dem AFG vorgesehenen individuellen und institutionellen Förderungsmaßnahmen vorrangig zu nutzen.

Bei Entlassungen müssen für die Betroffenen sozial verträgliche Lösungen gefunden werden. Kündigungsschutzvorschriften dürfen durch den Einigungsvertrag nicht aufgehoben oder gar ausgeschlossen werden. Die Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungs- und nach dem Bundespersonalvertretungsgesetz darf nicht ein geschränkt werden.

- Personen im öffentlichen Dienst, die nachweisbar gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder gravierend gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen haben, sind in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu entlassen.

- Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollen in allen Teilen Deutschlands möglichst rasch einander angeglichen werden. Dies ist Aufgabe der Tarifparteien. Dies muss auch für die Ausgestaltung materieller Leistungen während des Ruhens des Arbeitsverhältnisses gelten.

Auf die künftigen Beamtinnen und Beamten auf dem Gebiet der DDR sind die tarifvertraglich erzielten Regelungen zeit- und inhaltsgleich zu übertragen.

- Der DGB und der Sprecherrat bestehen darauf, im Sinne einer Beteiligung der Spitzenorganisation rechtzeitig und umfassend Beteiligung bei der Vorbereitung allgemeiner Regelungen der beamtenrechtlichen Verhältnisse beteiligt zu werden, die sich als Folge des Einigungsvertrages ergeben.

Ein gleiches Beteiligungsrecht reklamieren sie schon heute gegenüber den Ländern, wenn diese durch den Einigungsvertrag verpflichtet werden, ihr jeweiliges Beamtenrecht zu regeln.

4. Einzelne Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes

Einzelne Regelungen des AFG der DDR stellen aus Sicht des DGB und des Sprecherrates eine sachgerechte Fortentwicklung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums dar, indem

- berufliche Weiterbildungsmaßnahmen auch dann gefördert werden können, wenn das Arbeitsverhältnis noch nicht gelöst wurde;

- Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungen gezahlt und mit Weiterbildungsmaßnahmen kombiniert werden kann;

- die Regelungen zu den mittelbar vom Streik betroffenen Arbeitnehmer nach § 116 AFG nicht übernommen wurden, da dies die Machtbalance im Tarifkonflikt in unvertretbarer Weise zugunsten der Arbeitgeber verschiebt;

- ein Sozialzuschlag gezahlt wird und damit Mindestsicherungselemente in die Arbeitslosenversicherung eingebaut sind;

- alle Erwerbstätigen der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung unterliegen;

- die Möglichkeit des Vorruhestandes erhalten bleibt.

Einzelne dieser Regelungen sind aber nur bis zum 30. Juni 1991 befristet. Dieser Zeitraum muss mit dem Einigungsvertrag verlängert werden. Die in diesem Zeitraum gesammelten Erfahrungen sollten durch den zukünftigen, gesamtdeutschen Gesetzgeber ausgewertet werden, um danach ein einheitliches Recht zu schaffen.

5. Sozialversicherung

Die geplante Übertragung der bundesrepublikanischen Organisationsstrukturen der Sozialversicherung darf nicht dazu führen, dass diese Gliederungsprinzipien für das geeinte Deutschland zementiert werden. Vor allem im Zusammenhang mit der in der Bundesrepublik längst überfälligen Schaffung eines einheitlichen Arbeitnehmerbegriffs ergibt sich vielmehr die Notwendigkeit, dass der gemeinsame Gesetzgeber eine Reform der Organisationsstrukturen in Kranken- und Rentenversicherung unverzüglich in Angriff nimmt.

Die geplante Übertragung des bundesdeutschen Rentenrechts zum 1. 1. 1992 (SGB VI) sollte nach Auffassung des DGB und des Sprecherrates an die Bedingung geknüpft werden, dass durch Übergangsregelungen bestimmte Elemente des DDR-Rechts (z. B. dynamisierter Sozialzuschlag, allgemeine Versicherungspflicht) erhalten bleiben.

Auch im Bereich der Krankenversicherung muss mit dem Einigungsvertrag der Notwendigkeit struktureller Reformen Rechnung getragen werden.

Die Strukturen der ambulanten Versorgung sollten nach Auffassung des DGB und des Sprecherrates pluralistisch gestaltet werden. Dies heißt, dass neben der Zulassung von niedergelassenen Ärzten die in der DDR bestehenden Polikliniken und Ambulatorien weiter betrieben werden sollten. Die Kassen sollten mit diesen Einrichtungen Institutsverträge abschließen.

Ebenso sollten die Strukturen des betrieblichen Gesundheitswesens erhalten bleiben.

Es ist geplant, die Kassenstrukturen der BRD auf das Gebiet der DDR zu übertragen. Nach Auffassung des DGB und des Sprecherrates müsste dabei gewährleistet sein, dass

- ein einheitlicher Beitragssatz für längere Zeit aufrechterhalten bleibt.

- der gemeinsame Gesetzgeber unverzüglich eine Organisationsreform in Angriff nimmt.

Nach den bisherigen Erkenntnissen werden sich für die Renten- und Krankenversicherung der DDR erhebliche Finanzierungsdefizite ergeben. Der DGB und der Sprecherrat erwarten, dass der daraus entstehende höhere Zuschussbedarf aus Steuermitteln gedeckt wird. Eine Deckung dieser Defizite aus Beiträgen der Versicherten sowohl in der BRD wie in der DDR darf nicht in Erwägung gezogen werden.

Zur Finanzwahrheit und -klarheit ist es daher erforderlich, dass für eine Übergangszeit eine getrennte "Buchführung Ost-West" durchgeführt wird.

6. Arbeitsrecht

Der DGB und der Sprecherrat fordern den Erhalt der für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstigeren Vorschriften des geltenden Arbeitsrechts der DDR bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der zukünftige gesamtdeutsche Gesetzgeber ein einheitliches Recht schafft. Die Schaffung eines gemeinsamen Arbeitsrechts sollte insbesondere dazu genutzt werden, die bisherige Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufzuheben und durch einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff zu ersetzen. Keinesfalls darf die Regelung des § 55 AGB mit der dort vorgesehenen 14tägigen Kündigungsfrist weiter gelten.

Das Beschäftigungsförderungsgesetz der Bundesrepublik sollte nicht auf die DDR übertragen werden.

Das Arbeitsgerichtsgesetz und das Sozialgerichtsgesetz müssen möglichst umgehend und vollständig in die DDR übertragen werden. Das gleiche gilt für das Lohnfortzahlungsgesetz.

Der DGB und der Sprecherrat der Gewerkschaften und Industriegewerkschaften der DDR wenden sich entschieden gegen eine Übernahme des Gesetzes über Sprecherausschüsse in der DDR.

7. Arbeitsschutz, Humanisierung der Arbeit

Die Humanisierung der Arbeitswelt in der DDR ist angesichts der teilweise desolaten Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen eine vordringliche Aufgabe, die im Zuge der gegenwärtigen Erneuerung der DDR-Wirtschaft bewältigt werden muss. Deshalb fordern der DGB und der Sprecherrat:

- Die Schaffung der erforderlichen rechtlichen und materiellen Voraussetzungen, um einen schnellen Transfer von in der Bundesrepublik vorhandenem Wissen über menschengerechte Arbeits- und Technikkonzepte in die DDR zu bewirken;

- die Vereinbarung eines schnellen Aufbaus entsprechender Transfer- und Beratungsinstitutionen in der DDR, welche auch von den Betriebs- und Personalräten genutzt werden können.

Durch den Einigungsvertrag muss sichergestellt werden, dass die Zentralinstitute für Arbeitsmedizin und für Arbeitsschutz, die branchenorientierten arbeitshygienischen und wissenschaftlich-technischen Zentren sowie ihrer Substanz nach auch die Arbeitshygieneinspektionen und das betriebliche Gesundheitswesen der DDR erhalten bleiben. Darüber hinaus sollten Leitlinien für die teilweise oder vollständige Übernahme solcher Einrichtungen durch die gesetzliche Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung vereinbart werden.

8. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Frauenpolitik

Trotz der mangelnden Qualität vieler Dienstleistungen, die in der DDR zur Sicherung der hohen Erwerbstätigkeit der Frauen geschaffen wurden, muss festgestellt werden, dass die in der DDR bestehenden gesetzlichen Regelungen eine gute Ausgangsbasis dafür bieten, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Hausarbeit zu ermöglichen.

Aus diesem Grunde dürfen die in der DDR bestehenden gesetzlichen den Regelungen nicht im Zuge der Überleitung beseitigt werden. Dies gilt insbesondere für den in der DDR vorhandenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und das dadurch garantierte flächendeckende Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen sowie für den Erhalt der bestehenden Regelungen des Betreuungsurlaubs für erkrankte Kinder. Die Sonderregelung für Alleinerziehende bei dem Betreuungsurlaub muss erhalten bleiben.

Die in der DDR bestehende Fristenregelung für Schwangerschaftsabbrüche soll erhalten bleiben, bis die freie Entscheidung der Frauen zur Mutterschaft durch den zukünftigen gesamtdeutschen Gesetzgeber geregelt ist.

Das Beratungsangebot ist jedoch qualitativ und quantitativ auszubauen, so dass Betroffene ein Beratungsrecht in Anspruch nehmen können.

Der DGB und der Sprecherrat wehren sich gegen jede Zwangsberatung.

9. Ausländerpolitik, Asylrecht

Im Einigungsvertrag muss sichergestellt werden, dass die bestehenden Rechte von Ausländern erhalten bleiben und für das gesamte Gebiet des vereinigten Deutschlands gelten. Ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der DDR müssen daher einen Aufenthaltsstatus erhalten, der ihrem Status als Arbeitnehmer gerecht wird und die Dauer ihres Aufenthaltes und ihrer Beschäftigung in der DDR berücksichtigt.

Das Kommunalwahlrecht für Ausländer gilt in der DDR. Der Einigungsvertrag muss seine Erhaltung sicherstellen.

Darüber hinaus ist dafür Sorge zu tragen, dass das in Artikel 16 Grundgesetz verbürgte individuelle Asylrecht ungeschmälert erhalten bleibt.

10. Bildung

Bei der beabsichtigten Übertragung der Kulturhoheit auf die künftigen Länder der DDR muss zur Wahrung bzw. Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse sichergestellt werden:

- das einheitliche Schulsystem mit einer zehnjährigen Schulpflicht ist auszubauen und mit neuen Inhalten zu füllen;

- die Möglichkeiten des Hochschulzugangs für Berufstätige sind beizubehalten, und die Angebote für die berufliche Weiterbildung durch die Hochschulen der DDR müssen gesichert werden;

- Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II ist ebenso wie Studierenden eine Ausbildungsförderung zu gewähren, mit der der Lebensunterhalt gesichert ist. Der Einigungsvertrag sollte die Betriebe verpflichten, die Berufsausbildungskapazitäten mindestens bis zum Zeitpunkt der Erfüllung abgeschlossener Lehrverträge aufrechtzuerhalten. Es könnte die Möglichkeit eröffnet werden, vorhandene Kapazitäten der Berufsausbildung als überbetriebliche Ausbildungsstätten zu nutzen.

Daneben sollte ein Bildungsurlaub von zehntägiger Dauer durch ein Freistellungsgesetz zur Umsetzung des von der DDR ratifizierten ILO-Abkommens 140 eingeführt werden.

Zur Finanzierung der politischen und allgemeinen Weiterbildung fordern der DGB und der Sprecherrat eine Anschubfinanzierung zur Etablierung tragfähiger Weiterbildungsstrukturen in der DDR entsprechend den Regelungen der Anschubfinanzierung der beruflichen Weiterbildung.

Ferner muss die außerschulische politische Jugendbildung bis zur Gültigkeit eines einheitlichen Bundesjugendplanes gesichert und ausgebaut werden.

11. Forschung und Technologie

Ohne eine leistungsfähige Wissenschafts- und Forschungslandschaft wird weder die wirtschaftliche und ökologische Erneuerung der DDR-Wirtschaft noch deren angemessene Integration in die internationale Arbeitsteilung gelingen.

Zur Verwirklichung dieser Ziele sind folgende Vereinbarungen im Einigungsvertrag zu treffen

- Gründung eines gemeinsamen Forschung und Wissenschaftsrates;

- Schaffung eines Fonds zur Finanzierung von Forschungsprojekten, um die sich DDR-Wissenschaftler und -Wissenschaftlerinnen bewerben können.

12. Medien und Kulturpolitik

Für die Übergangszeit bis zur Verabschiedung von Landesrundfunkgesetzen ist der Rundfunk in der DDR staatsfern, dem Gemeinwohl verpflichtet und öffentlich-rechtlich verfasst einzurichten.

Privatrechtlich verfasste Rundfunkveranstalter dürfen erst zugelassen werden, wenn die Grundversorgung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als umfassendes pluralistisches Programmangebot gesichert ist.

Die Schaffung einer einheitlichen Kulturpolitik setzt angesichts der unterschiedlichen kulturellen und Kunstentwicklungen hinreichende Übergangsfristen sowie die finanzielle Sicherung der Kulturförderung voraus. Der Einigungsvertrag sollte auch die Grundlagen für die soziale Absicherung der DDR-Künstler schaffen.

Tribüne, Nr. 145, Di. 31. Juli 1990

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